Aktien – 30.09.2022
Für europäische Aktien war 2022 bislang kein gutes Jahr. Seit Jahresbeginn bis 23. September verzeichnet der europaweite Leitindex Stoxx Europe 600 ein Minus von rund 20 Prozent – trotz positiver Gewinnrevisionen von 8,4 Prozent innerhalb der vergangenen sechs Monate. In der Folge sind europäische Titel auf Basis des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) mittlerweile so niedrig bewertet wie lange nicht mehr: Das KGV unter Berücksichtigung der aktuellen Aktienkurse und der 12-Monats-Gewinnerwartungen im Stoxx Europe 600 liegt aktuell bei nur noch 11. Daraus ergibt sich ein Rekordabschlag von 35 Prozent gegenüber dem US-Pendant S&P 500. Selbst unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sektorgewichtungen ist der Bewertungsabstand zwischen europäischen und US-Aktien damit so groß wie noch nie seit der Jahrtausendwende. Die Gründe dafür dürften vor allem in den Unsicherheiten über das mögliche Ausmaß der in Folge der Energiekrise erwarteten Rezession und die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Europa liegen.
Anleger dürften sich aufgrund der historisch niedrigen Bewertungen fragen, ob nun ein günstiger Einstiegszeitpunkt für europäische Aktien gekommen ist. Die Analystengemeinde scheint dazu eine geteilte Meinung zu haben. Während einige Analysten den Boden bei den Bewertungen noch nicht erreicht sehen und, unter anderem befeuert durch die Erwartung steigender Kapitalmarktzinsen, ein Absinken des KGV auf unter 10 erwarten, haben andere möglicherweise ein etwas zu großes Vertrauen in Europas konjunkturelle Widerstandskraft und antizipieren eine schnelle v-förmige Konjunkturerholung.
Die Deutsche Bank hält im Umfeld bestehender Rezessionsgefahren in der Eurozone und einer anhaltend aggressiven Geldpolitik der Notenbanken zur Bekämpfung der hohen Inflation auf absehbare Zeit weitere Kursrücksetzer am europäischen Aktienmarkt für möglich. Zumal im Zuge der nahenden Berichtssaison für das dritte Quartal 2022 negative Gewinnrevisionen der Unternehmen zu erwarten sind. Zu einem massiveren Kurseinbruch sollte es jedoch trotz aller bestehenden Risiken, zuvorderst der Energiepreiskrise, nicht kommen. Auch weil die Gefahr einer Gasmangellage zuletzt wieder etwas abgenommen hat.
Zwar scheint es unwahrscheinlich, dass Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland auf absehbare Zeit wieder aufnimmt. Doch der Lieferstopp könnte nach und nach etwas von seinem Schrecken verlieren, da andere Gasförderländer, insbesondere Norwegen, ihre Produktion bereits stark ausgeweitet und so die fehlenden russischen Lieferungen zumindest teilweise kompensiert haben. Zudem haben europaweit die Regierungen Schritte unternommen, um ihre Volkswirtschaften vor den Auswirkungen hoher Energiepreise zu schützen. Deutschland beispielsweise stellt dafür Mittel in Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung, Großbritannien sogar 9 Prozent.
Auch die Anstrengungen, auf andere Energieträger und -lieferanten umzusteigen, sind groß. In den kommenden Quartalen sollten hier wesentliche Fortschritte erzielt werden. So dürften in Deutschland noch in diesem Winter drei neue schwimmende Anlagen zur Regasifizierung von Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) mit einer Kapazität von 15 Prozent des gesamten deutschen Jahreserdgasverbrauchs in Betrieb gehen. Darüber hinaus ist bis zum Frühjahr 2023 die Fertigstellung einer neuen Gaspipeline zwischen Spanien und Mitteleuropa geplant – Spanien ist aktuell das Land mit der größten Regasifizierungskapazität in Europa. Des Weiteren sollen in Frankreich bis Ende 2022 zusätzlich zu den 24 noch laufenden auch die 32 derzeit stillstehenden Atommeiler wieder ans Netz gehen, um die Energieversorgung zu unterstützen.
Ein weiterer Aspekt, der Hoffnung auf ein Abflauen der Gaskrise schürt, liegt auf der Nachfrageseite: Der Gasverbrauch ist über den Sommer stärker als erwartet zurückgegangen – in Deutschland um rund 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dazu haben bislang aktiv, aber auch unfreiwillig vor allem die Unternehmen beigetragen. Zum einen, weil sie, soweit möglich, auf andere Energieträger umgestiegen sind, zum anderen, weil die deutsche Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahr um 1,6 Prozent gesunken ist. Dadurch sind die Gasspeicher aktuell bereits gut gefüllt. Abhängig vom Verlauf des Winters könnten die Gasvorräte zwar im schlimmsten Fall, also bei einem sehr kalten Winter, bis Anfang März 2023 stark abnehmen; zu einer Rationierung der Gaslieferungen dürfte es aber auch dann nur in Einzelfällen kommen. Die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum dürften somit eher begrenzt ausfallen.
Trotz aller positiven Signale geht von den hohen Energiepreisen weiterhin eine große Bedrohung für die europäische Konjunktur aus – zumal die Absicherungsinstrumente gegen steigende Gaspreise bei vielen Unternehmen zum Jahresende auslaufen, der Umstieg auf andere Energiequellen oft kurzfristig aber nicht möglich ist. In Deutschland beispielsweise wird laut einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie rund ein Drittel der Firmen auch künftig von Erdgaslieferungen abhängig sein.
Vor diesem Hintergrund warnen einige Experten bereits vor einer Zunahme der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland. Aufgrund ihres niedrigen Verschuldungsgrades und hoher Liquiditätsreserven dürfte jedoch eine Vielzahl deutscher Unternehmen in der Lage sein, eine gewisse Durststrecke zu überstehen. Zudem gehören viele mittelständische Unternehmen zu den Weltmarktführern ihrer Branchen und können deshalb Kostensteigerungen an ihre Kunden weitergeben. Diese Unternehmen sollten auch zu den Ersten gehören, die von einer möglichen globalen Konjunkturerholung nach dem Energiepreisschock profitieren.
Dass im Winter in Europa aufgrund des russischen Gaslieferstopps die Lichter (und Heizungen) ausgehen und Unternehmen reihenweise in die Insolvenz rutschen, scheint also momentan eher unwahrscheinlich.
Allerdings scheint es ratsam, die weltwirtschaftliche Entwicklung im Blick zu behalten. Sollte das globale nominale Wirtschaftswachstum wie erwartet stabil bleiben, könnte – trotz möglicher negativer Gewinnrevisionen für das dritte Quartal 2022 – die Lage der Unternehmen mittelfristig besser ausfallen, als es die Stimmung an den Märkten vermuten lassen würde. Das dürfte insbesondere auf die strukturell exportorientierten europäischen Unternehmen im Stoxx Europe 600 zutreffen, die insgesamt rund 50 Prozent ihrer Umsätze außerhalb der Eurozone generieren – ein Grund, warum der europäische Aktienmarkt nicht unbedingt die konjunkturelle Lage in der Eurozone widerspiegeln muss.
Zudem sollte der schwache Euro die exportorientierten europäischen Unternehmen stützen. Das könnte die Auswirkungen eines erwarteten wirtschaftlichen Abschwungs auf die Bewertungen europäischer Aktien abmildern und Euroanlegern eine gewisse Inflationsabsicherung bieten. Ebenfalls positiv anzumerken ist, dass sich die Höhe der Aktienrückkäufe in Europa derzeit auf einem Allzeithoch befindet. Das sollte auf 12-Monats-Sicht die erwartete durchschnittliche Dividendenrendite in Europa stützen – diese liegt derzeit bei 3,8 Prozent. Entsprechend risikobereite Anleger, die auf die Resilienz von „Corporate Europe“ vertrauen, könnten nach einem kritischen Blick auf die kommende Berichtssaison und die weitere konjunkturelle Entwicklung im aktuellen Umfeld weitere Rücksetzer als mögliche Einstiegszeitpunkte sehen.
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Redaktionsschluss: 28.09.2022, 12:00 Uhr